Die Fraktionen im Stadtrat wissen um die Spannungen im früheren Integrationsrat. Die Hoffnung liegt zum Teil auf dem neuen Ausschuss für Soziales und Integration. Für die UWG ist er ein „Papiertiger“

Von Gerald Dunkel

Der Integrationsrat hatte in Bünde keinen guten Stand. Wie berichtet, kam das Gremium, das sich politisch um die Angelegenheiten der in Bünde lebenden Migranten kümmern und sie vertreten sollte, mangels Freiwilligenmeldungen nicht mehr zustande. Von Beginn an gab es im Integrationsrat Misstöne. 

Der Integrationsrat bestand aus Ratsmitgliedern und Bürgern der Listen „Pro Integration“ und „International“. Einige protestierten, weil die Zahl der Ratsmitglieder darin höher war als die der Nicht-Ratsmitglieder. Eyüp Odabasi war der Vorsitzende des Gremiums und berichtete im Gespräch mit der Neuen Westfälischen Anfang November, dass ihm als damaliges Ratsmitglied der Grünen nahegelegt worden sei, das Ratsmandat niederzulegen. Ebenso Jana Nagel (CDU). „Es war für uns immer wichtig, überparteilich zu arbeiten“, sagte Odabasi.

Aber bedeutet das mangelnde Interesse vielleicht auch, dass die Migranten in Bünde zufrieden sind? Nun wurde der frühere Ausschuss für Generationen und Soziales umbenannten in den Ausschuss für Soziales und Integration. In den Ratsfraktionen herrscht Bedauern und Zuversicht. 

Stephanie Janßen-Rickmann, Fraktionssprecherin der Grünen in Bünde, glaubt nicht, „dass die Migrantinnen und Migranten aus Zufriedenheit mit Politik und der Verwaltung und ihren Lebensumständen nicht mehr angetreten sind. Die Arbeit im Integrationsrat ist zeitaufwendig und aufreibend. Dennoch konnten keine Beschlüsse gefasst, sondern nur Empfehlungen an den Rat gegeben werden. Wenn Erfolge ausbleiben, verlieren die Menschen das Interesse, sich zu beteiligen.“ 

»Man spricht über Migranten, aber nicht mit ihnen«

 Der Integrationsrat „war ein Ort, an dem die Bünder mit und ohne Migrationsgeschichte aktiv Demokratie erleben und daran teilhaben konnten“, so Janßen-Rickmann weiter. Den Ausschuss für Soziales und Integration sieht die Grünen-Sprecherin als ein Gremium, in dem „über Migranten gesprochen wird, aber nicht mit ihnen“. 

Martin Schuster (CDU) sieht die Integrationsarbeit vor allem auf ehrenamtlicher Basis auf einem guten Weg und sagt: „Aus meiner Sicht ist die Bildung eines eigenständigen Ausschusses nicht gleichzusetzen mit der Relevanz oder der Wertschätzung in jedem einzelnen Bereich. Eine hohe Anzahl von Ausschüssen steigert in der Regel nicht die Qualität der politischen Arbeit. Ich freue mich darüber, dass die integrative Arbeit in Bünde durch viele ehrenamtliche Einzelpersonen und Vereine – insbesondere aber durch die Stadtverwaltung – so hervorragend funktioniert. Natürlich müssen wir alle gemeinsam daran arbeiten, dass das auch so bleibt. Der Ausschuss für Soziales und Integration wird unter dem CDU-Vorsitz seinen Beitrag dazu leisten.“ 

Ernst Tilly (FDP) sieht die Integrationsarbeit der Verwaltung ebenfalls positiv. Dadurch habe sie zur Integration beigetragen und eine „Ghettobildung“ verhindert. Zum Integrationsrat sagt Tilly: „Der Integrationsrat hat sich schwerpunktmäßig mit kultureller Integration und Hilfen für Vereinigungen wie dem Verein International befasst. Dabei ging es nicht nur um Flüchtlinge, sondern um die Integration der Zugewanderten aus unterschiedlichen Kulturen.“ Das könne laut Tilly künftig auch vom Kulturausschuss gefördert werden. Integration hingegen sei auch im Jugendhilfeausschuss oder im Schulausschuss gut aufgehoben. Weiter erklärt Tilly: „Die Jugendaktivitäten zum Umwelt- und Klimaschutz sind mit Führungspersonen aus zugewanderten Familien ein Ansporn für uns alle. Die Parteien und Ratsfraktionen sind gut beraten, wenn sie sich weiterhin auch für Zugewanderte als aktive Mitglieder öffnen.“ 

Die UWG bedauert immer, wenn Teile der Bevölkerung sich nicht mehr aktiv beteiligen. Die Umbenennung des Ausschusses in Soziales und Integration sieht vielleicht auf dem Papier nett aus, bedeutet aber erstmal keine Stärkung für irgendwen“, so der UWG-Fraktionsvorsitzende Jörn Döring, der nicht weiter kommentieren möchte, dass der Integrationsrat nicht zustande gekommen ist. Die Umbenennung des Ausschusses sei aber nur „eine Willensbekundung von Politik und Verwaltung“. 

»Zufriedenheit dürfte kaum Ursache für Desinteresse sein«

 Andrea Kieper (SPD) sah es für den Integrationsrat immer als problematisch an, dass er „ohne eigenes Budget als Bittsteller an den Sozialausschuss herantreten musste“. Auch in der Umsetzung von Ideen sei er vom Sozialausschuss abhängig gewesen. Das habe nicht sehr motivierend gewirkt. „Dass Menschen mit Migrationshintergrund in Bünde mit der Politik, der Verwaltung und ihren Lebensumständen so zufrieden sind, dürfte daher eher nicht der Grund für ein mangelndes Interesse am Integrationsrat sein“, sagt Kieper auf NW-Nachfrage. Im neuen Ausschuss sehe sie gute Chancen, „dass die Interessen von Menschen mit Migrationshintergrund entsprechendes Gehör finden und gemeinsam mit ihnen erfolgreich Integrationspolitik gemacht werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es wünschenswert, Menschen mit Migrationshintergrund in die Arbeit des Ausschusses, etwa als sachkundige Einwohner oder auch als ordentliche Mitglieder, mit einzubeziehen“. 

Auch der Fraktion der Partei Die Linke sind die Spannungen im früheren Integrationsrat bekannt. Man sehe den neuen Ausschuss für Soziales und Integration positiv. „Für ausländische Mitbürger gibt es in Bünde leider noch einige Punkte, die optimiert werden müssen. Hier wurden uns aus der Vergangenheit beispielsweise die Abwicklung der Wahlen zum letzten Integrationsrat und die Problematik mit der Prüfung der doppelten Staatsbürgerschaft genannt, auch regelmäßige Probleme mit Anträgen wurden oft thematisiert“, erklärt Linken-Fraktionschef Thorsten Beuß. Er hat in der Vergangenheit aber auch Handlungsbedarf bei der Verwaltung gesehen: „Wir wünschen uns für die Migranten eine bessere Zusammenarbeit mit der Verwaltung und hier und da vielleicht mehr Fingerspitzengefühl, wenn etwas mal nicht so rund läuft.“ 

Die Fraktion der AfD hat sich nach mehrmaliger Anfrage der Redaktion nicht zum Thema geäußert.

 

 

 

 

 

 

Immer mehr Städte sprechen sich dafür aus, Geflüchtete bei sich aufzunehmen, insbesondere Kinder. Eine Initiative fordert, dass die Stadt Bünde sich anschließt.

 Mit einem Schreiben hat sich das Bündnis „Bünde solidarisch" an Bürgermeisterin Susanne Rutenkröger gewandt. Die Verfasser fordern, dass sich die Stadt der Initiative „Sichere Häfen" anschließt. Die Gruppen des Bündnisses haben sich einstimmig für einen solchen Antrag ausgesprochen. 

Immer mehr Kommunen in Deutschland stellen sich gegen die Abschottungspolitik Europas und wollen den Menschen ein sicheres Ankommen ermöglichen", schreibt das Bündnis an die Bürgermeisterin. Die Mitglieder fordern „mit Verweis auf die verfügbaren Kapazitäten in Bünde, unabhängig von der Erfüllungsquote, die zusätzliche Aufnahme von schutzbedürftigen Menschen, die unter katastrophalen Bedingungen in Flüchtlingslagern ausharren müssen." Besonders für Kinder seien die Zustände dort grausam, sie würden täglich Unsägliches erleiden. 

Stadt soll sich bereit erklären, ab sofort Kinder aufzunehmen 

Wir möchte daher den Beispielen von Porta Westfalica, Minden, Bielefeld und vielen anderen Kommunen folgen und Bünde zu einem ,Sicheren Hafen’ erklären", heißt es weiter in dem Schreiben. Als Sofortmaßnahme fordert das Bündnis, dass die Stadt „zur Aufnahme von zehn minderjährigen Flüchtlingen aus den völlig überfüllten Flüchtlingslagern an den Grenzen Europas" bereit ist. Dies sei ein kleiner Beitrag einer weltoffenen Stadt und ein Gebot der Menschlichkeit: „Wir dürfen Staaten wie Griechenland nicht länger alleine lassen." 

Die Idee zu den „Sicheren Häfen" hatte die Bewegung „Seebrücke", die sich für Geflüchtete einsetzt. Inzwischen haben sich mehr als 200 Kommunen in Deutschland zum „sicheren Hafen" erklärt. Allerdings dürfen deutsche Kommunen und Bundesländer solche Aufnahmeprogramme nur mit Zustimmung der Bundesregierung aufnehmen, das Bundesinnenministerium lehnte das bislang aber grundsätzlich ab. 

Anschließen möchten sich die Gruppen von „Bünde solidarisch" dieser Idee trotzdem. Denn: „Wir sehen die Kommune in der Pflicht, ein politisches Zeichen zu setzen und mit gutem Beispiel voranzugehen". Ein sicherer Hafen zu werden, habe Signalwirkung und zeige: „Die europäische Idee bedeutet Solidarität und Hilfsbereitschaft, gerade in schwierigen Situationen." 

Zum Bündnis „Bünde solidarisch“ gehören die folgenden Gruppierungen:
Initiative 9. November; Alevitengemeinde Bünde; Jusos; Fridays for Future; DGB; Villa Kunterbunt; AG Migration und Vielfalt der SPD; Die Linke; Die Partei; Verein International; Rise up for Justice Bielefeld; Naturfreunde Herford

 

 

 

 

Verein International erhält 2.000 Euro, um die Schicksale von Bünder Juden aufzuarbeiten


Norbert Kaase bearbeitet Bildmaterial zum Film über die Geschichte jüdischer Schicksale aus Bünde.      Foto: Verein International

Gute Nachrichten erhielt dieser Tage der Verein International von der Bezirksregierung Detmold. Das NRW-Heimatministerium fördert mit einem Zuschuss von 2.000 Euro ein Filmprojekt des Vereins, das die Geschichte der Bünder Juden aufarbeitet, die unter der Nazidiktatur deportiert und in Konzentrationslagern umgebracht wurden. 

Der Geschichte Gesichter geben,“ ist der Titel des Films, den der Bünder Film- und Videoproduzent Norbert Kaase erstellen möchte. Historisches Material hat er bei den Gesprächen mit Zeitzeugen und den Aufnahmen bei der jährlichen Mahn- und Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht am 9. November bereits reichlich archiviert. „Da sind jetzt schon über 30 Videokassetten auszuwerten“, so Kaase. 

Der fertige Film soll rund 45 Minuten dauern und vornehmlich im schulischen Unterricht gezeigt werden. Weitere Nutzungsmöglichkeiten wären das lokale Museum und das Kino Universum, die Volkshochschule sowie Kultur- und Jugendeinrichtungen im Bünder Land. In der Vergangenheit wurde die Erinnerungsarbeit wesentlich durch Begegnungen und Interviews mit Zeitzeugen und deren Angehörigen wachgehalten. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters dieser Überlebenden des Holocaust ist diese Form des Gedenkens endlich. So hat der Verein International überlegt, durch ein Filmprojekt die Geschichte der Juden in Bünde zu dokumentieren und auch nachfolgenden Generationen zugänglich zu machen. 

Die Idee dazu hatte Christina Whitelaw, ehemals Lehrerin am Gymnasium am Markt und Gründerin der dortigen Netzwerk-AG. Seit 1999 hat die „AG Netzwerk“ lokale Recherchearbeit geleistet und Material zu Einzelschicksalen dokumentiert. „Die Netzwerkgruppe verknüpft Gedenkarbeit mit Dialog zwischen drei Generationen. Im Zuge ihrer Nachforschungen entstanden Kontakte zu 14 jüdischen Emigranten, die teils auf Einladung der Gruppe in Bünde zu Besuch waren. Auch fanden mehrere Gegenbesuche in den USA statt“, berichtet Christina Whitelaw. 

Mit der Förderung der Landesregierung können nun die nächsten Schritte zur Umsetzung des Filmprojekts angegangen werden. Für die Restfinanzierung sucht der Verein noch weitere Fördergelder und Spenden.

 

 

 

 

 

 

 

Mehr als 300 Menschen demonstrierten am Samstag für ein „solidarisches Bünde“ und erteilten „rechter Hetze“ eine deutliche Absage. Kurz vor der Kommunalwahl war der Ort bewusst gewählt worden.

Von Gerald Dunkel

Bünde. Die Stadt Bünde ist im Kreis Herford die einzige Kommune, in der die „Alternative für Deutschland“ (AfD) eine Kandidatenliste für die Kommunalwahl zusammenbekommen hat. Für viele Organisationen und Gruppierungen ein Grund, dagegen zu demonstrieren. Sie wollen dem nicht „tatenlos zusehen“, wie sie selbst bekunden. Sie machten am Samstagnachmittag in der Bünder Innenstadt mobil und erklärten bei mehreren Kundgebungen, dass „Bünde bunt und weltoffen bleiben soll“ und Rassismus in der Stadt keinen Platz hat. 
Etwas mehr als 300 Demonstranten machten deutlich, was sie von „rechter Hetze“ halten. Auch Ratspolitiker von SPD, Grünen und FDP sowie auch einige der neuen Kandidaten nahmen am Protestzug teil. Auch Landrat Jürgen Müller sowie die SPD-Bundes- und Landtagsabgeordneten Stefan Schwartze und Angela Lück schlossen sich den Demonstranten an. 
Begleitet von Polizei zogen Menschen aus dem gesamten Kreis Herford und Bielefeld vom Bünder Bahnhof über die Bahnhofstraße durch die Innenstadt bis zum Steinmeisterpark, in dem eine Abschlusskundgebung stattfand. Auch zwischenzeitlich starker Regen trübte die Stimmung nicht. 
Aufgerufen hatten die Initiative 9. November Bünde sowie der Verein Jugendzentrum Bünde (Villa Kunterbunt). Unterstützt wurden sie von den Jusos, der Aleviten-Gemeinde Bünde, dem Verein International, dem DGB, „Fridays for Future“ sowie der Jugendbewegung „Rise up for Justice Bielefeld“ (Steh’ auf für Gerechtigkeit).

»Das war unser erstes starkes Zeichen gegen die AfD hier in Bünde«

Bünde ist keine Insel“, hieß es an verschiedenen Stellen mehrfach. „Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungsideologien finden auch in Bünde eine zunehmend aggressive Gefolgschaft. In den sozialen Medien und an den Stammtischen wird systematisch Hetze betrieben“, so die Organisatoren des Protests. 
Doch es ging nicht nur allein um ein deutliches Zeichen und einen gesellschaftlichen Pakt gegen Rechts. Die Organisatoren forderten für ein solidarisches Bünde aber auch „sichere Räume für selbstbestimmte Kinder- und Jugendarbeit“ und meinten damit in erster Linie die Jugendzentren „Atlantis“ und „Timeout“ sowie die „Villa Kunterbunt“. Auch „sicherer und guter Wohnraum“ stand neben weiteren Punkten auf der Agenda. 
In mehreren Redebeiträgen am Bahnhof, auf dem Rathausvorplatz und zuletzt im Steinmeisterpark wurden auch zahlreiche Passanten auf die oft „versteckte Gefahr“ von Rassismus und Antisemitismus aufmerksam gemacht. Besonders anrührend waren dabei die Ansprachen des jungen Vertreters von „Rise up for Justice“ und der jungen Vertreterin der „Fridays for Future“-Bewegung Bünde. 
Ich bin ein Ostwestfale, der von Rassismus betroffen ist. So wie mir geht es vielen nicht-weißen Menschen. Deutsch, aber trotzdem fremd. Unsere Familien leben seit Generationen hier“, so der junge Redner. Er machte deutlich dass Rassismus nicht immer nur „Horrorgeschichten über prügelnde Neonazibanden“ seien. „Ich spreche über die kleinen täglichen Nadelstiche und Verletzungen des Alltagsrassismus’“. Den spüre er bei Bewerbungen, weil er einen anders klingenden Namen habe. Ladendetektive würden eher ihn beobachten, als einen weißen Kunden. „Ich bin nicht überempfindlich, nur weil ich Rassismus wahrnehme und darüber spreche“, sagte er. 
Die junge Rednerin von „Fridays for Future“ machte deutlich, dass es ihrer Initiative nicht nur um Klima- und Umweltschutz gehe. „Ohne die Villa Kunterbunt würde es uns nicht geben. Sie hat uns, als wir angefangen haben, einen Platz gegeben, an dem wir uns treffen konnten und hat uns unterstützt, wo es nur ging. Und auch wir wollen in unserer Stadt, in der wir leben, keinen Rassismus haben.“ 
Mehrere Beiträge folgten im Steinmeisterpark, wo auch ein Grußwort von St. Josef-Gemeindereferent Ulrich Martinschledde, der nicht anwesend sein konnte, verlesen wurde. Er machte besonders den jungen Menschen Mut: „Ihr seid ein Zeichen dafür, dass wir hier in Bünde mehrheitlich keine Rattenfänger und politischen Brandstifter wollen und all denen, die mit populistischen Meinungen und diffusen Ängsten Politik machen wollen, keine Bühne bereiten.“ 
Die Organisatoren waren mit der Demo und der Resonanz sehr zufrieden. Von ihnen hieß es: „Das war hier in Bünde unser erstes starkes Zeichen gegen die AfD.“

 

Von Ralf Bittner

Bünde. Der Konflikt um das syrische Idlib und die Reaktion der Türkei, die Grenzen Richtung Griechenland und damit Europa für Geflüchtete zu öffnen, hat den Syrien-Konflikt wieder ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gebracht: „Mit der Aktion will Erdogan militärischen Beistand der Nato, Geld und Waffen aus Europa erpressen“, sagte Murat Yilmaz, der auf Einladung von Aleviten-Gemeinde und Verein International über die Situation in Nordsyrien referierte.

Yilmaz, Mitglied der Partei Die Linke, lieferte einen kenntnisreichen Vortrag zur Geschichte eines Konfliktes, dessen Wurzeln für ihn im späten 19. Jahrhundert liegen, als sich die Kolonialmächte – damals vor allem England und Frankreich – den Zugang zu Erdöl und Einflusssphären sicherten. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg schufen die Kolonialmächte in Grundzügen den Nahen Osten wie er heute ist. In der Türkei entstand eine nationalistische Befreiungsbewegung an deren Ende eine Türkei unter Kemal Atatürk entstand. Der wird bis heute als Modernisierer gesehen, der das Land nach Westen öffnete. 

Yilmaz sieht das anders: „Das war ein Despot, der gegen Minderheiten und politische Gegner gnadenlos vorging. Unter anderem verhängte er in den kurdischen Gebieten 1925 einen Ausnahmezustand, der bis 2002 bestand. Bis heute ist die Region durch ein Ringen verschiedener Mächte geprägt. So ist die umkämpfte Region Idlib von einem Ring türkischer, iranischer und russischer Kontrollposten umgeben. Auch die USA, England, Frankreich, China und Deutschland sind vor Ort“, sagt Yilmaz, „nur nicht so offensichtlich“. 

Im Zweifel heißt es immer: Alle gegen die Kurden“  

Die Türkei rechtfertige ihr Expansionsstreben und die Feldzüge „Operation Friedensquelle“ 2019 und aktuell „Frühlingsschild“ auf syrischem Boden als Verteidigung gegen Terrorismus. Die Operationen werden von Kritikern als völkerrechtswidrig verurteilt, die Türkei beruft sich auf das Adana-Abkommen von 1998, in dem die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) zur Terrororganisation erklärt wurde. Außerdem verpflichtete sich Syrien, PKK-Aktivitäten auf seinem Territorium zu unterbinden und es erlaubt der Türkei bis zu 15 Kilometer tief auf syrischem Gebiet gegen die PKK vorzugehen. Dort sind heute aber nicht die PKK, sondern mehrheitlich kurdische, multiethnische und multireligiöse „Volksbefreiungseinheiten“ (YPG) aktiv, die von NATO, EU und Deutschland als militärische Partner im Kampf gegen den IS geschätzt, gleichzeitig aber wegen der Einstufung als Tarnorganisation der PKK durch die Türkei in Deutschland mit Repressionen überzogen werden.  

Anders als die frühe PKK streben die Kurden heute keinen eigenen Staat mehr an, sondern einen Autonomiestatus ähnlich den Schweizer Kantonen. Damit wäre es Aufgabe Syriens, die kurdischen Gebiete an der Grenze zur Türkei gegen Erdogans Truppen zu verteidigen, eine Konstellation an die Yilmaz nicht so recht glaubt.  

Im Zweifel heißt es immer, alle gegen die Kurden, egal wie unterschiedlich die Interessen sonst sind“, sagt er. Mit „alle“ meint er die vier Staaten mit großen kurdischen Minderheiten Türkei, Iran, Irak und Syrien. Außerdem hätte die Geschichte der Türkei gezeigt, dass die Türkei auf Autonomieforderungen mit Umsiedlungen, Vertreibungen, Repression und notfalls brutalster Gewalt bis zum Völkermord reagiere. 

Yilmaz sieht aber auch einen Hoffnungsschimmer: bei den Kommunalwahlen in der Türkei konnte die sozialdemokratische CHP viele Oberbürgermeisterposten in den Großstädten erringen, auch weil die mehrheitlich kurdische HDP keine eigenen Kandidaten aufgestellt hatte, und so die Stimmen der Opposition auf einen Kandidaten bündeln konnte.
 

Kooperation und miteinander reden ist der einzige Weg zum Frieden“, glaubt Yilmaz, und die Konflikte nicht weiter mit Waffenlieferungen und Geld anzuheizen: „So werden auch die Fluchtursachen beseitigt.“ Und damit kommt er am Ende eines langen Vortragsabends doch noch in der Innenpolitik an.