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Ein Krieg: Weit weg und doch sehr nah bei uns, NW Bünde 18.03.2020

Von Ralf Bittner

Bünde. Der Konflikt um das syrische Idlib und die Reaktion der Türkei, die Grenzen Richtung Griechenland und damit Europa für Geflüchtete zu öffnen, hat den Syrien-Konflikt wieder ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gebracht: „Mit der Aktion will Erdogan militärischen Beistand der Nato, Geld und Waffen aus Europa erpressen“, sagte Murat Yilmaz, der auf Einladung von Aleviten-Gemeinde und Verein International über die Situation in Nordsyrien referierte.

Yilmaz, Mitglied der Partei Die Linke, lieferte einen kenntnisreichen Vortrag zur Geschichte eines Konfliktes, dessen Wurzeln für ihn im späten 19. Jahrhundert liegen, als sich die Kolonialmächte – damals vor allem England und Frankreich – den Zugang zu Erdöl und Einflusssphären sicherten. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg schufen die Kolonialmächte in Grundzügen den Nahen Osten wie er heute ist. In der Türkei entstand eine nationalistische Befreiungsbewegung an deren Ende eine Türkei unter Kemal Atatürk entstand. Der wird bis heute als Modernisierer gesehen, der das Land nach Westen öffnete. 

Yilmaz sieht das anders: „Das war ein Despot, der gegen Minderheiten und politische Gegner gnadenlos vorging. Unter anderem verhängte er in den kurdischen Gebieten 1925 einen Ausnahmezustand, der bis 2002 bestand. Bis heute ist die Region durch ein Ringen verschiedener Mächte geprägt. So ist die umkämpfte Region Idlib von einem Ring türkischer, iranischer und russischer Kontrollposten umgeben. Auch die USA, England, Frankreich, China und Deutschland sind vor Ort“, sagt Yilmaz, „nur nicht so offensichtlich“. 

Im Zweifel heißt es immer: Alle gegen die Kurden“  

Die Türkei rechtfertige ihr Expansionsstreben und die Feldzüge „Operation Friedensquelle“ 2019 und aktuell „Frühlingsschild“ auf syrischem Boden als Verteidigung gegen Terrorismus. Die Operationen werden von Kritikern als völkerrechtswidrig verurteilt, die Türkei beruft sich auf das Adana-Abkommen von 1998, in dem die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) zur Terrororganisation erklärt wurde. Außerdem verpflichtete sich Syrien, PKK-Aktivitäten auf seinem Territorium zu unterbinden und es erlaubt der Türkei bis zu 15 Kilometer tief auf syrischem Gebiet gegen die PKK vorzugehen. Dort sind heute aber nicht die PKK, sondern mehrheitlich kurdische, multiethnische und multireligiöse „Volksbefreiungseinheiten“ (YPG) aktiv, die von NATO, EU und Deutschland als militärische Partner im Kampf gegen den IS geschätzt, gleichzeitig aber wegen der Einstufung als Tarnorganisation der PKK durch die Türkei in Deutschland mit Repressionen überzogen werden.  

Anders als die frühe PKK streben die Kurden heute keinen eigenen Staat mehr an, sondern einen Autonomiestatus ähnlich den Schweizer Kantonen. Damit wäre es Aufgabe Syriens, die kurdischen Gebiete an der Grenze zur Türkei gegen Erdogans Truppen zu verteidigen, eine Konstellation an die Yilmaz nicht so recht glaubt.  

Im Zweifel heißt es immer, alle gegen die Kurden, egal wie unterschiedlich die Interessen sonst sind“, sagt er. Mit „alle“ meint er die vier Staaten mit großen kurdischen Minderheiten Türkei, Iran, Irak und Syrien. Außerdem hätte die Geschichte der Türkei gezeigt, dass die Türkei auf Autonomieforderungen mit Umsiedlungen, Vertreibungen, Repression und notfalls brutalster Gewalt bis zum Völkermord reagiere. 

Yilmaz sieht aber auch einen Hoffnungsschimmer: bei den Kommunalwahlen in der Türkei konnte die sozialdemokratische CHP viele Oberbürgermeisterposten in den Großstädten erringen, auch weil die mehrheitlich kurdische HDP keine eigenen Kandidaten aufgestellt hatte, und so die Stimmen der Opposition auf einen Kandidaten bündeln konnte.
 

Kooperation und miteinander reden ist der einzige Weg zum Frieden“, glaubt Yilmaz, und die Konflikte nicht weiter mit Waffenlieferungen und Geld anzuheizen: „So werden auch die Fluchtursachen beseitigt.“ Und damit kommt er am Ende eines langen Vortragsabends doch noch in der Innenpolitik an.